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Fabeln

DER RABE UND DER FUCHS
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: "Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiters!" - "Für wen siehst du mich an?" fragte der Rabe - "Für wen ich dich ansehe?" erwiderte der Fuchs. "Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechte des Zeus auf diese Eiche herabkömmt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?"
Der Rabe staunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. "Ich muß," dachte er," den Fuchs aus diesem Irrtume nicht bringen." - Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon. Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte.
Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!

DER HAMSTER UND DIE AMEISE
"Ihr armseligen Ameisen", sagte ein Hamster. "Verlohnt es sich der Mühe, daß ihr den ganzen Sommer arbeitet, um ein so weniges einzusammeln? Wenn ihr meinen Vorrat sehen solltet!" - "Höre", antwortete eine Ameise, "wenn er größer ist, als du ihn brauchst, so ist es schon recht, daß die Menschen dir nachgraben, deine Scheuren ausleeren und dich deinen räubrischen Geiz mit dem Leben büßen lassen!"

DIE EICHE UND DAS SCHWEIN
Ein gefräßiges Schwein mästete sich unter einer hohen Eiche mit der herabgefallenen Frucht. Indem es die eine Eichel zerbiß, verschluckte es bereits eine andere mit dem Auge.
"Undankbares Vieh!" rief endlich der Eichbaum herab. "Du nährest dich von meinen Früchten, ohne einen einzigen Blick auf mich in die Höhe zu richten."
Das Schwein hielt einen Augenblick inne und grunzte zur Antwort: "Meine dankbaren Blicke sollten nicht ausbleiben, wenn ich nur wüßte, daß du deine Eicheln meinetwegen hättest fallen lassen."

DIE WASSERSCHLANGE
Zeus hatte nunmehr den Fröschen einen anderen König gegeben: anstatt eines friedlichen Klotzes eine gefräßige Wasserschlange.
"Willst du unser König sein", schrien die Frösche, " warum verschlingst du uns ?" - " Darum ", antwortete die Schlange, " weil ihr um mich gebeten habt."
" Ich habe nicht um dich gebeten ! " rief einer von den Fröschen, den sie schon mit den Augen verschlang. - " Nicht ? " sagte die Wasserschlange. " Desto schlimmer ! So muß ich dich verschlingen, weil du nicht um mich gebeten hast."

DER BESITZER DES BOGENS
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß und den er ungemein wert hielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: "Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade! - Doch dem ist abzuhelfen!" fiel ihm ein. "Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen."
Er ging hin, und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt als eine Jagd?
Der Mann war voller Freuden. "Du verdienest diese Zieraten, mein lieber Bogen!" - Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen - zerbricht.

DER TANZBÄR
Ein Tanzbär war der Kett entrissen,
kam wieder in den Wald zurück
und tanzte seiner Schar ein Meiserstück
auf den gewohnten Hinterfüßen.
„Seht“, schrie er, „das ist Kunst, das lernt man in der Welt.
Tut es mit nach, wenns euch gefällt,
und wenn ihr könnt!“ - „Geh“, brummt ein alter Bär,
„dergleichen Kunst, sie sei so schwer,
sie sei,l so rar sie sei,
zeigt deinen niedern Geist und deine Sklaverei.“
Ein großer Hofmann sein,
ein Mann, dem Schmeichelei und List
statt Witz und Tugend ist;
der durch Kabalen steigt, des Fürsten Gunst erstielt,
mit Wort und Schwur als Komplimenten spielt,
ein solcher Mann, ein großer Hofmann sein,
schließt das Lob oder Tadel ein?

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